NI LabVIEW unterstützt die wissenschaftliche Forschung im Antimaterielabor am CERN

Marco Volponi, Senior Research Fellow, CERN

 

Schwerpunkte der Fallstudie

 

  • LabVIEW hat die Entwicklung eines erweiterten Automatisierungssystems ermöglicht, mit dem Effizienz und Zuverlässigkeit in der komplexen Antimaterieforschung am CERN deutlich gesteigert werden konnten.
  • Die Lösung hat die Zeit für die Datenerfassung um 18 Prozent verkürzt, die Effizienz beim Einfangen von Antimaterie um mehr als 100 Prozent erhöht und die Sicherheit erhöht, sodass jetzt nicht überwachte, automatisierte Operationen rund um die Uhr möglich sind.
  • Die Vielseitigkeit und Skalierbarkeit von LabVIEW haben einen erfolgreichen Einsatz bei mehreren Experimenten ermöglicht und so das Potenzial für umfassendere wissenschaftliche Anwendungen gezeigt.

„Das Automatisierungssystem von NI LabVIEW hat unser AEgIS-Experiment am CERN revolutioniert. Wir konnten die Zeit für die Datenerfassung um 18 Prozent reduzieren, die Effizienz beim Einfangen von Antimaterie um mehr als 100 Prozent steigern sowie die Sicherheit verbessern und können jetzt Experimente unbeaufsichtigt durchführen. Der Erfolg über mehrere Projekte hinweg beweist das Potenzial der Lösung zur Straffung der wissenschaftlichen Forschungsautomatisierung.“

– Marco Volponi, Senior Research Fellow am CERN

Die Aufgabe:

Präzision ist in der wissenschaftlichen Forschung unerlässlich, insbesondere beim AEgIS-Experiment am CERN zur Untersuchung von Antimaterie. Für dieses komplexe Projekt ist eine präzise Koordination der Geräte auf die Nanosekunden genau erforderlich. Früher waren manuelle Anpassungen durch Forscher arbeitsintensiv und fehleranfällig. Dadurch hatten sie weniger Kapazitäten, sich auf die Datenanalyse und weitere Experimente zu konzentrieren.

Die Lösung:

Im Rahmen der AEgIS-Zusammenarbeit wurde sich der Herausforderungen gestellt, CIRCUS („Computer Interface for Reliably Controlling, in an Unsupervised Manner, Scientific Experiments“) mit TALOS („Total Automation of LabVIEW Operations for Science“) zu implementieren. Dieses mit NI LabVIEW erstellte System automatisiert Versuchssequenzen und reduziert menschliche Eingriffe. Das Akteur-Framework von LabVIEW bietet eine robuste, verteilte Struktur der Regelschleife, die die Zuverlässigkeit, Stabilität und Effizienz verbessert.

Die Suche nach dem Verständnis von Antimaterie 

 

Antimaterie ist das Spiegelbild der gewöhnlichen Materie, da sie aus Teilchen gleicher Masse, aber mit entgegengesetzten Ladungen und Eigenschaften besteht. Das Verständnis von Antimaterie ist von entscheidender Bedeutung, da es Antworten auf die kosmologische Schlüsselfrage liefern könnte, warum unser Universum überwiegend aus Materie besteht und nicht aus einer gleichwertigen Mischung aus Materie und Antimaterie. 

 

 

Abbildung 1: Die AEgIS-Antiwasserstoffproduktionsfalle – hervorgebracht durch das Öffnen des Hauptkryostaten.

 

 

Das AEgIS-Experiment zielt darauf ab, grundlegende Prinzipien der Physik mithilfe von Antimaterie zu testen, einschließlich des Verhaltens von Antiwasserstoff unter dem Einfluss von Schwerkraft. Diese Forschung könnte möglicherweise unser Verständnis des Universums verändern. Die Arbeit mit Antimaterie ist jedoch keine einfache Aufgabe: Es sind unglaublich präzise Messungen und eine genaue Kontrolle über extreme Versuchsbedingungen erforderlich (z. B. das Einschließen elektromagnetischer Partikel in einem Vakuum, das besser ist als das Weltall, bei nahezu absoluter Nulltemperatur). Um dies zu erreichen, ist eine perfekte Koordination hunderter Geräte erforderlich, deren Betrieb mit Nanosekundengenauigkeit synchronisiert werden muss. Man kann sich das so vorstellen, als würde man versuchen, ein Sinfonieorchester zu dirigieren, bei dem jeder Musiker (in diesem Fall jedes Gerät) seinen Part mit perfektem Timing und Präzision 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche spielen muss. Die Notwendigkeit einer erweiterten Automatisierung wird entscheidend.

 

Die Geburt von CIRCUS und TALOS

 

Das CERN-Team erkannte die Grenzen der manuellen Steuerung und entwickelte CIRCUS mit TALOS und LabVIEW als Hauptkomponenten. Dieses System veränderte die Betriebslandschaft der Wissenschaftler, ähnlich wie moderne Autopilotsysteme die Luftfahrt revolutioniert haben. Die Integration von LabVIEW ermöglichte die Schaffung einer verteilten Systemarchitektur, die einzelne Maschinen zu einem kohärenten, automatisierten Netzwerk vereinte.

 

TALOS fungiert dabei als Dirigent dieses komplexen Orchesters. Es koordiniert alle Aspekte des Experiments, von der Steuerung einzelner Geräte bis hin zur Verwaltung und Überwachung des gesamten Versuchsablaufs. Jede Komponente im System arbeitet als Microservice und bietet Modularität und Flexibilität. Diese Architektur erlaubt es, verschiedene Teile des Experiments separat aktualisieren oder modifizieren zu können – und diese Änderungen im Falle eines Problems sofort rückgängig zu machen, ohne dass es zu einer Störung des gesamten Systems kommt. Diese Eigenschaft ist von entscheidender Bedeutung in einer Forschungsumgebung, in der Anpassungsfähigkeit von zentraler und Systemverfügbarkeit und -stabilität von größter Bedeutung sind. 

 

Das Schema von CIRCUS und TALOS, das die Beziehung zwischen Guardian, Microservices, Sinara (FPGA von AEgIS), ALPACA (Analyseframework) und dem Datenerfassungssystem (DAQ) darstellt.

 

Abbildung 2: Das Schema von CIRCUS und TALOS, das die Beziehung zwischen Guardian, Microservices, Sinara (FPGA von AEgIS), ALPACA (Analyseframework) und dem Datenerfassungssystem (DAQ) darstellt. Die akteurbasierte Struktur von TALOS ist die Basis der Schnittstelle zwischen dem Guardian (dem Hauptakteur) und den Microservices, die im FOAM („Father of all Microservices“) gekapselt sind. In jedem Microservice muss nur der Code für die spezifischen Funktionalitäten implementiert werden. Drei nennenswerte Microservices werden explizit erwähnt: der DAQ-Manager, der die Interaktion mit dem DAQ steuert; der Monkey, der Kern der Automatisierung, der die Schnittstelle mit ALPACA verwaltet; und der Kasli-Wrapper, der die Interaktion mit dem FPGA übernimmt.1

 

 

So wurde beispiellose betriebliche Effizienz erreicht

 

Die Implementierung von CIRCUS und des LabVIEW-basierten Frameworks TALOS führte zu erheblichen Verbesserungen von Effizienz und Zuverlässigkeit. Im Verlauf einer 69-tägigen Datenerfassungskampagne hat die Automatisierung von TALOS beispielsweise 18 Prozent Datenerfassungszeit eingespart. Auch wenn diese Zeitersparnis nach nicht viel klingt, bedeutet diese Zeiteinsparung in der Welt der Atomphysik, in der Experimente über Monate oder sogar Jahre laufen können, einen enormen Produktivitätsschub.

 

Eine der bemerkenswertesten Eigenschaften des Systems ist die Funktion der Fehlerverwaltung. TALOS umfasst ein Ausführungsplaner für das Schreiben experimenteller Testskripte, einen Monkey, der diese ausführt und Entscheidungen auf höchster Ebene trifft, und einen Fehlerverwalter mit benutzerdefinierten Fehlerbedingungen und präzisen Gegenmaßnahmen zur Verwaltung verteilter Systemfehler. Diese Elemente zusammen garantieren, dass sich allen Problemen umgehend gestellt wird, wodurch die Integrität und Effizienz der experimentellen Prozesse aufrechterhalten bleiben. Diese Architektur ist wie ein Team wachsamer Assistenten, die ständig jeden Aspekt des Experiments im Auge behalten und bereit sind, jeden Moment einzugreifen.

 

Ein Screenshot des CIRCUS-Steuersystems, das einen Schedule für Experimente mit Antimaterie ausführt.

 

Abbildung 3: Ein Screenshot des CIRCUS-Steuersystems, das einen Schedule für Experimente mit Antimaterie ausführt. Die primäre Schnittstelle wird von TALOS bereitgestellt. In der linken oberen Ecke befinden sich die Guardians- und Microservices-Watchdogs, während sich die Fehlerliste in der rechten oberen Ecke befindet. In der rechten Spalte enthält der obere Abschnitt spezifische Details zum ausgewählten Fehler und darunter ein Echtzeitprotokoll, das die betrieblichen Aktivitäten von Kasli anzeigt. Diese Schnittstelle ist für alle Versuchsmaschinen einheitlich. Im Hauptfenster wird der Captorius-3-Manager-Microservice angezeigt, der die Erfassung des Hauptoszilloskops des Experiments steuert.

 

 

Die Fähigkeit des Systems, autonom zu arbeiten, insbesondere nachts und an Wochenenden, stellte einen Paradigmenwechsel dar, da es nun möglich ist, kontinuierlicher Daten zu sammeln und Forschern so die Zeit zu geben, sich auf theoretische Arbeiten und Arbeiten zur Datenanalyse zu konzentrieren. Dieser Übergang von einer umständlichen manuellen Bedienung zu einer automatisierten Steuerung stellt einen bedeutenden Sprung in der Durchführung komplexer wissenschaftlicher Experimente dar.

 

Darüber hinaus haben die Präzision und die Synchronisierungsfunktionen von TALOS zusammen mit dem Feedback zu den erfassten Daten (das durch KI-Lösungen unterstützt werden kann) den Bereich der experimentellen Möglichkeiten geöffnet und so die Maschinenleistung drastisch verbessert und neue Messungen überhaupt erst möglich gemacht. Ein Beispiel ist die automatische Antiprotonenstrahlsteuerung, deren manuelle Ausführung einst Wochen in Anspruch nahm. Sie kann nun periodisch und voll automatisiert innerhalb weniger Stunden durchgeführt werden, was zu einer erhöhten Einfangeffizienz von mehr als 100 Prozent führt. Das beste Beispiel für die möglichen Funktionen ist die automatische Zeitdrifteinstellung des Positroniumlasers pro Schuss: Durch die Reduzierung der Unsicherheit von ~100 ns auf nur wenige Nanosekunden ermöglichte TALOS die weltweit erste Laserkühlung von Positroniumatomen – eine Leistung, die schon über 30 Jahre lang angestrebt wurde.2

Eine Rückkopplungsschleife berechnet anhand der unkorrigierten Laserpulszeitaufnahmen (rote Quadrate) die Abweichung von der Benutzereinstellung (durchgehende schwarze Linie) während einer Stunde und korrigiert das Timing des nachfolgenden gewünschten Laserpulses, der für das eigentliche Experiment verwendet wird (blaue Kreise).

 

Abbildung 4: Eine Rückkopplungsschleife berechnet anhand der unkorrigierten Laserpulszeitaufnahmen (rote Quadrate) die Abweichung von der Benutzereinstellung (durchgehende schwarze Linie) während einer Stunde und korrigiert das Timing des nachfolgenden gewünschten Laserpulses, der für das eigentliche Experiment verwendet wird (blaue Kreise). Unabhängig von kurzfristigen bis langfristigen Drifts oder gar plötzlichen Sprüngen liegt das resultierende Timing immer nahe am gewünschten Wert.3

 

Konvergenzdiagramm des autonomen Strahlsteuerungsoptimierers.

 

Abbildung 5: Konvergenzdiagramm des autonomen Strahlsteuerungsoptimierers. Auf der y-Achse werden die Annihilationszählungen (proportional zu den gefangenen Antiprotonen) und auf der X-Achse die Wiederholungen der Strahlsteuerungskonfiguration angezeigt. Ein deutlicher Anstieg der Anzahl gefangener Antiprotonen ist sichtbar.

 

 

Fazit

 

Die Anwendung von NI LabVIEW bei der Entwicklung der CIRCUS- und TALOS-Systeme im AEgIS-Experiment am CERN ist ein erfolgreicher Fall von erweiterter Automatisierung in der komplexen wissenschaftlichen Forschung. Diese Technologie verbessert nicht nur die betriebliche Effizienz und Datenqualität (durch Erhöhung der Standardisierung und Wiederholbarkeit von Verfahren und Durchführung von Low-Level-Datenqualitätsprüfungen), sondern setzt auch einen Standard für zukünftige autonome Steuerungssysteme in verschiedenen wissenschaftlichen und industriellen Anwendungen fest. Die von LabVIEW bereitgestellte Automatisierung, Fehlerbehandlung sowie modulare Architektur haben sich als entscheidend erwiesen, um die ehrgeizigen Ziele des AEgIS-Experiments zu erreichen und verdeutlichen die zentrale Rolle von NI in der fortschreitenden wissenschaftlichen Forschung.

 

Die Implementierung dieses LabVIEW-basierten Systems hat dem Forschungsteam verschiedene Vorteile gebracht. Die Automatisierungsfunktionen haben zu einer erheblichen Zeitersparnis geführt, sodass Forscher ihre Zeit der Datenanalyse und anderen zentralen Tätigkeiten widmen können, anstatt sich mit der manuellen Systemverwaltung beschäftigen zu müssen. Die verbesserten Sicherheits- und Stabilitätsmerkmale haben die allgemeine Betriebssicherheit verbessert und das Risiko potenzieller Schäden an teuren Geräten verringert. Die präzise Orchestrierung und die Wiederholbarkeit von Messverfahren haben sowohl die erzielten Ergebnisse verbessert als auch neue Experimente ermöglicht. Die Skalierbarkeit und Agilität der LabVIEW-basierten Lösung haben eine effiziente Systemmigration und -erweiterung ermöglicht und es so mehreren Teammitgliedern ermöglichet, nahtlos mitzuarbeiten.

 

Diese Erfolgsgeschichte zeigt nicht nur die Leistungsfähigkeit von LabVIEW in der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch mögliche Anwendungen in einer Vielzahl von Branchen, in denen Präzision, Automatisierung und Zuverlässigkeit an erster Stelle stehen. Von der Fertigung bis zur Luft- und Raumfahrt könnten die Prinzipien und Technologien der Antimaterieforschung am CERN den Weg für effizientere, zuverlässigere und innovativere automatisierte Systeme in verschiedenen Bereichen ebnen.

 

Quellen

1 Volponi, M., Zieliński J., Rauschendorfer T., Huck S., Caravita R. et al (the AEgIS Collaboration). TALOS (Total Automation of LabVIEW Operations for Science): A framework for autonomous control systems for complex experiments. Rev. Sci. Instrum. 95 (2024); doi: https://doi.org/10.1063/5.0196806.

 

2 Glöggler, L. T., Gusakova, N., Rienäcker, B., Camper, A., Caravita, R., Huck, S., Volponi, M., et al (the AEgiS Collaboration). Positronium Laser Cooling via the 13S-23P Transition with a Broadband Laser Pulse. Physical Review Letters 132, Nr. 8 (22. Februar 2024): 083402. https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.132.083402.

 

3 Volponi, M., Huck S., Caravita R., Zieliński J., Kornakov G., et al (the AEgIS Collaboration). CIRCUS: An Autonomous Control System for Antimatter, Atomic and Quantum Physics Experiments. EPJ Quantum Technology 11, Nr. 1 (15. Februar 2024): 10. https://doi.org/10.1140/epjqt/s40507-024-00220-6.